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Die Dunkelziffer wird immer deutlicher sichtbar

26. Februar 2024

Für die Kampagne „Armut hat viele Gesichter“ zeigen sich Tafel-Kund*innen / Mitarbeitende von Diakonie und Tafel aus der Region äußern sich zu den Hintergründen

Die unsichtbare Dunkelziffer tritt immer mehr aus dem Schatten: Eine große Zahl von Bedürftige aus der Region kam bisher aus Scham nicht zur Lebensmittelausgabe, weiß Ralf Grey, Sprecher der Syker Tafel. Inzwischen ist die Not in vielen Haushalten aber so groß geworden, dass es sich für die Betroffenen nicht mehr vermeiden lässt. Foto: Canva

KIRCHENKREIS (miu). Die Preise für Lebensmittel, Energie und Material steigen deutlich schneller als Sozialleistungen, Renten und Gehälter – seit Jahren schon. Mittlerweile sind 14,1 Millionen Menschen in Deutschland von Armut betroffen. Mehr als 2 Millionen von ihnen sogar so stark, dass sie auf Lebensmittelausgaben der Tafel angewiesen sind. Und es werden täglich mehr. Diese alarmierende deutschlandweite Entwicklung bestätigen auch Ralf Grey (Sprecher der Syker Tafel mit Ausgabestellen in Syke, Bruchhausen-Vilsen und Weyhe) und Marlis Winkler (Geschäftsführerin des Diakonischen Werks Diepholz-Syke-Hoya) für die Region.

Vor allem die wachsenden Energie- und Lebenshaltungskosten sorgen dafür, dass die bisher unsichtbare Dunkelziffer von Bedürftigen immer deutlicher sichtbar wird. „Viele Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind und sie aufgrund ihres niedrigen Einkommens auch von der Tafel bekommen könnten, haben sich lange Zeit aus Scham nicht getraut, zu uns zu kommen“, erklärt Ralf Grey. Inzwischen sei die Not in vielen Haushalten aber so groß geworden, dass es sich für die Betroffenen nicht mehr vermeiden ließe.

Auch die Anzahl der Kund*innen im Rentenalter habe sich bei der Lebensmittelausgabe im letzten Jahr verdoppelt. Tendenz weiterhin steigend.

„Armut in Deutschland hat viele Gründe. Krankheit, Niedriglohn-Jobs, Arbeitsplatzverlust, fehlende Kinderbetreuung oder Trennung sind nur einige davon“, betont Marlis Winkler.

Um zu verdeutlichen, dass Armut in den meisten Fällen kein Zeichen für individuelle Schuld, sondern ein strukturelles Problem ist, hat der Dachverband „Tafel Deutschland“ eine Kampagne gestaltet. Unter dem Titel „Armut hat viele Gesichter“ machen Menschen, die zur Tafel gehen, ihre vielschichtigen Geschichten sichtbar. Auf großflächigen Plakaten zeigen sie ihr Gesicht und erzählen von ihren Erfahrungen, Wünschen und Ängsten.
Der Fotograf Reiner Pfisterer bildet die Frauen und Männer auf Augenhöhe ab – selbstbestimmt, der Kamera zugewandt und fernab der Klischees, mit denen Armut häufig dargestellt wird.

Burkhard ist einer von ihnen. Er wurde krankheitsbedingt Frührentner und rutschte in die Armut. Ebenso wie Natalia, die mit ihren fünf kleinen Kindern vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet ist. Anja Mary, die ihre Eltern pflegt. Der 46-jährige Familienvater Marcel. Und eine Frau, die sich „L“ nennt und ihr Leben lang in Niedriglohn-Jobs gearbeitet hat, bis sie am Ende aus gesundheitlichen Gründen auf Bürgergeld angewiesen war, das vorne und hinten nicht reicht.

Zu den Hintergrund-Themen der fünf Menschen und wo sie ihnen in ihrer Arbeit begegnen, äußern sich ehren- und hauptamtlich Mitarbeitende der Tafel und des Diakonischen Werkes aus der Region:

Marlis Winkler

Marlis Winkler

Geschäftsführerin Diakonisches Werk Diepholz-Syke-Hoya:

„Bei unserer Arbeit im Diakonischen Werk Diepholz-Syke-Hoya begegnen wir oft Menschen mit einem ähnlichen Schicksal wie Burkhard. Wer wenig Geld hat, gerät schnell in die Einsamkeit. Teilhabe und soziale Kontakte gehen zunehmend verloren. Wir sehen es als unsere Aufgabe in Kirche und Diakonie an, Räume der Begegnung zu schaffen.“

Carla Pfitzner

Carla Pfitzner

Ausgabestellenleiterin für die Tafel-Ausgabestelle in Weyhe:

 „In den letzten Jahren kommen immer mehr Rentner zur Tafel, weil das Leben so teuer geworden ist. Die Strompreise und Lebenshaltungskosten sind sehr hoch, sodass sie für viele Menschen trotz Hilfen schwer zu bewältigen sind. Das stellen wir bei unserer Ausgabestelle in Syke immer wieder fest.“

Gülcan Acar

Gülcan Acar

Koordinatorin für Personal und Lebensmittelverteilung in der Tafel-Ausgabestelle in Syke:

„Armut ist komplex und betrifft Menschen in ganz vielfältigen Situationen. Armut ist der Schatten, den die Gesellschaft wirft. In der Tafel suchen wir nach Wegen, diesen Schatten zu erhellen, indem wir Hoffnung und Unterstützung bieten. Die Wurzeln der sozialen Ungerechtigkeit sind tiefer als wir denken.“

Matthias Brockes

Matthias Brockes

Leiter der Tafel-Ausgabestelle in Bruchhausen-Vilsen:

„Auch bei uns gibt es Natalias – mit anderen Namen... Wenn sie in unsere Ausgabestelle kommen, dann ist – trotz mancher Sprachbarrieren – immer wieder zu spüren, wie gut es ihnen tut, uns als verlässliche Anlaufstelle zu haben.“

Katrin Moser

Katrin Moser

Kirchenkreissozialarbeiterin im Diakonischen Werk Diepholz-Syke-Hoya:

 „Die Bürokratie ist wirklich eine große Herausforderung. Die Klienten müssen an vielen Stellen Anträge stellen und alles im Blick behalten. Das führt zu Überforderung und macht das System anfällig für Fehler. Wir sind da, um ihnen zu helfen.“

Gülcan Acar

Gülcan Acar

Koordinatorin für Personal und Lebensmittelverteilung in der Tafel-Ausgabestelle in Syke:

„Die Schicksale von Menschen wie Natalia und ihren fünf Kindern sind stille Zeugen für die Lücken im sozialen Netz. In einer Welt, in der Bürokratie oft das Herz der Menschlichkeit zu erdrücken scheint, ist die Tafel ein Ort, an dem wir versuchen, die Lücken zu füllen und Mitgefühl über den Mangel an staatlichen Angeboten hinaus zu bieten.“ 

Gülcan Acar

Gülcan Acar

Koordinatorin für Personal und Lebensmittelverteilung in der Tafel-Ausgabestelle in Syke:

„Das Leben konfrontiert uns regelmäßig mit Herausforderungen. Und es ist unsere Reaktion darauf, die unsere wahre Größe definiert. An der Tafel finden wir immer wieder Menschen wie Anja Mary, die trotz finanzieller Härten die Stärke und den Mut haben, ihr Leben in die Hand zu nehmen und auch noch das von anderen – zum Beispiel ihren alten Eltern. Hier lernen wir, dass wahre Fülle oft in der Gemeinschaft und der Großzügigkeit des Herzens zu finden ist.“

Matthias Brockes

Matthias Brockes

Leiter der Tafel-Ausgabestelle in Bruchhausen-Vilsen:

„Dass Armut weiblich ist, wird bei uns im ländlichen Bereich sichtbarer als im städtischen.“

Stefan Gövert

Stefan Gövert

Stellv. Geschäftsführer Diakonisches Werk Diepholz-Syke-Hoya:

 „Ein längerfristiges Niedrigeinkommen, Erkrankungen und Arbeitslosigkeit sind die Hauptgründe für eine Überschuldung. Die hohe Inflation und die massiv gestiegenen Energiekosten haben die angespannte finanzielle Situation vieler Menschen noch verschärft und sind in vielen Fällen existenzbedrohend. Diese Situation zeigt sich täglich in den Beratungsgesprächen unserer Sozialen Schuldnerberatung.“

Matthias Brockes

Matthias Brockes

Leiter der Tafel-Ausgabestelle in Bruchhausen-Vilsen:

„Begegnung auf Augenhöhe – darum bemühen wir uns bei jeder Ausgabe wieder. Und – darüber reden wir offen – einige unserer Mitarbeiter*innen wissen aus eigenen zurückliegenden Zeiten sehr wohl, was Armut bedeutet…“

Gülcan Acar

Gülcan Acar

Koordinatorin für Personal und Lebensmittelverteilung in der Tafel-Ausgabestelle in Syke:

 „Gesellschaftliche Probleme reflektieren die Vielfalt der Armut. Aber in jedem Spiegelbild schimmert die drängende Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Bei der Tafel, wo wir betroffenen Menschen helfen, versuchen wir, diese Frage mit Taten zu beantworten.“