'

„Hier haben unsere Kinder eine Zukunft“

Nachricht 21. Oktober 2024

Diakonie-Serie „Erfolgsgeschichten“: Für Familie Anwari-Habibi ist Integration, Bildung und Arbeit wichtig

Die afghanische Familie Anwari-Habibi hat in Hoya eine neue Heimat gefunden. Kirchenkreissozialarbeiterin Claudia Amend unterstützt Fawad Habibi, Aliasghar, Asinat, Komail und Ruqia Anwari (von links). Auf dem Foto fehlen Faria (19), Sajad (16) und Fakhria (12). Foto: Mareike Hahn

Hoya (mah). Die Kinder sollen eine gute Zukunft haben. Das ist das Wichtigste für Ruqia Anwari und ihren Mann Fawad Habibi. „In Afghanistan gibt es diese Zukunft nicht“, sagt die sechsfache Mutter. Sie ist dankbar, in Hoya eine neue Heimat gefunden zu haben.

Es war der 12. April 2014, als Ruqia Anwari mit ihren Kindern in der Grafenstadt ankam. Sie weiß das Datum auswendig. Knapp acht Monate später, am 5. Dezember, kam Fawad Habibi nach.
Afghanistan leidet seit Jahrzehnten unter terroristischen Anschlägen. „Die Sicherheitslage ist schlecht“, formuliert es das Auswärtige Amt. Familie Anwari/Habibi stammt aus der Hauptstadt Kabul und gehört zur muslimischen Minderheit der Schiiten, die von der radikalislamischen Terrororganisation Taliban verfolgt wird.

Die Taliban regierten in Afghanistan bis 2001. seit 2021 sind sie wieder an der Macht. In den 20 Jahren dazwischen unterstützte die Internationale Sicherheitsbeistandstruppe den Wiederaufbau des Landes und bekämpfte die Taliban. Fawad Habibi arbeitete in dieser Zeit mit Deutschen und Amerikanern zusammen. Als Fahrer chauffierte er Soldaten, Ingenieure und Arbeiter, die zum Beispiel Straßen reparierten. 
Für die Taliban war Fawad Habibi ebenso wie seine Auftraggeber ein Feind: „Sie drohten mir“, erinnert er sich. „Aber ich musste doch arbeiten und meine Familie ernähren. Meine Kinder waren noch klein. Wir hatten Angst.“
Die Taliban machten ernst. „Mein Chef Wolfgang wurde angegriffen“, sagt Fawad Habibi. „Viele meiner Kollegen wurden verletzt oder starben. Mein Bruder, der auch mit Deutschen gearbeitet hat, bekam einen Streifschuss ab.“Für einen Moment ist es still im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer der Familie in Hoya. Fawad Habibi, Ruqia Anwari und ihr Sohn Komail sitzen auf Stühlen, ihre Kinder Asinat und Aliasghar haben auf Sitzkissen Platz genommen. Fawads Blick scheint in die Ferne gerichtet zu sein. „Das war sehr schwer“, sagt er. Und schiebt hinterher: „Aber jetzt sind wir hier.“

Die Familie entschied zu flüchten. Mehr als ein Jahr war sie unterwegs, teils mit dem Flugzeug, teils zu Fuß. Über Iran, Türkei und Griechenland gelangte sie nach Deutschland. „In der Türkei waren wir drei Monate“, erzählt der inzwischen volljährige Komail. „Man musste immer gucken, wie es weitergeht.“
In Griechenland erkannte die Familie, dass es besser war, sich aufzuteilen. „Wir Kinder und unsere Mutter konnten nach Deutschland reisen, aber mein Vater wurde wegen eines Problems mit dem Pass verhaftet und musste für zwei Monate ins Gefängnis“, sagt Komail.

Ruqia Anwari und ihre Sprösslinge landeten erst in Dortmund; über Friedland ging es schließlich nach Hoya. „Es war sehr schwer für mich, allein zu sein, ohne meinen Mann. Ich habe jeden Tag geweint“, blickt die Afghanin zurück.

Heute steht für die Familie fest: „Wir wollen in Hoya bleiben. Das Leben hier ist sehr schön.“ Seit gut einem Jahr haben Eltern und Kinder deutsche Pässe. „Hier gibt es viele, viele nette Leute“, sagt Ruqia Anwari. Bei der Ankunft half ihr, dass sie Englisch spricht. Vor ihrer Hochzeit hatte sie 13 Jahre in Pakistan gelebt und „Englisch und Computer“ gelernt. 
Ihr Mann weiß die Vorzüge der Kleinstadt zu schätzen, zum Beispiel, dass die Kinder zu Fuß zur Schule gehen können. „Es war ein bisschen schwer, Arbeit zu finden“, berichtet er und freut sich: „Aber ich habe welche gefunden.“ Erst bei „HelloFresh“ in Verden, nun beim Fahrrad-Großhändler Hartje in Hoya. 

Dankbar sind die Eltern für die Hilfe von Bürgern, Lehrern – und ganz besonders von Claudia Amend vom Diakonischen Werk Diepholz-Syke-Hoya. Anfangs unterstützte die Kirchenkreissozialarbeiterin noch beim Ausfüllen von Anträgen – „aber es wird immer weniger. Das meiste können sie alleine. Nur manchmal gibt es noch kleine Fragen“, berichtet Claudia Amend und schaut Ruqia Anwari anerkennend an: „Sie haben wirklich viel geleistet!“

„In Afghanistan war immer Krieg, immer Stress“, sagt Ruqia Anwari und zählt gravierende Unterschiede zu Deutschland auf: „Hier können Kinder und Frauen alleine rausgehen. Auch Mädchen dürfen hier die Schule besuchen, und es gibt Arbeit. Das ist in Afghanistan alles ganz anders.“

Die Kinder lernten in Hoya schnell Deutsch, fanden Freunde. Komail (18) und Asinat (7) spielen Fußball, der elfjährige Aliasghar geht gerne schwimmen und zur Kochgruppe im Hoyaer Jugendzentrum „Conexxxx“.
„Wir haben zu Hause immer Deutsch gesprochen, damit wir es schneller lernen“, sagt Komail. „Wir Kinder können besser Deutsch als unsere Muttersprache. Ich hab in Afghanistan nur die erste Klasse besucht – lesen und schreiben kann ich gar nicht auf Afghanisch.“ „Wir Eltern haben uns mit der Sprache ein bisschen schwerer getan“, erzählt Fawad Habibi in gut verständlichem Deutsch. „Manchmal lachen die Kinder, wenn ich rede“, sagt seine Frau und muss selbst lachen. „Aber egal.“

Ruqia Anwari hilft bei Veranstaltungen als Dolmetscherin. „Als ich ein Jahr in Deutschland war, kamen viele neue Familien aus Afghanistan. Ich wurde gebeten zu übersetzen und habe gleich zugesagt. So viele Leute haben mir in der schweren Zeit geholfen – da war es gut, dass nun auch ich helfen konnte.“
Ansonsten kümmert sie sich um Haushalt und Kinder und hat seit sechs Jahren einen Minijob bei der Pizzeria „Europa“. „Diese Familie ist wie meine eigene Familie. Ich arbeite da sehr gerne.“ Sohn Komail jobbt seit einem halben Jahr auch bei der Pizzeria als Lieferant.

Für alle offen: Das Diakonische Werk Diepholz-Syke-Hoya

Das Diakonische Werk Diepholz-Syke-Hoya ist für alle offen. Die Hilfsangebote der Sozialen Arbeit im Kirchenkreis stehen Betroffenen kostenlos und unabhängig von Konfessionen, Orientierungen und Nationalitäten zur Verfügung.  Kirchenkreissozialarbeiterin Claudia Amend arbeitet seit vielen Jahren für das Diakonische Werk. Sie begleitet Menschen in persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Sie bietet persönliche Sprechstunden in Hoya und Bassum an und ist erreichbar unter Telefon 04251/3062 oder per E-Mail: claudia.amend@evlka.de.

Ihre Kinder essen am liebsten Pizza und Nudeln, aber Fawad Habibi und Ruqia Anwari möchten auch die (Ess-)Kultur ihres Heimatlands bewahren. Auf dem Tisch vor dem dunkelgrauen Ecksofa im Wohnzimmer stehen Kannen mit grünem Tee sowie Schüsseln mit Kuchen, Nüssen und Zambossa, das sind Teigtaschen mit Kartoffeln und Hackfleisch. Dazu gibt es Joghurt- und Chili-Soße. Das Geschirr stammt aus einem Laden, der afghanische Waren verkauft.

Die Eltern hören gerne Musik aus ihrer Heimat, schauen Filme aus Afghanistan. Der Freundeskreis der Familie ist aber total international. „Ich habe deutsche Freunde, afghanische, kurdische, einen nigerianischen Freund ...“, erzählt Komail. Er besucht die Oberstufe am Johann-Beckmann-Gymnasium und möchte nach dem Abi gern Architekt werden. Claudia Amend freut sich, wie zielstrebig der Junge ist: „Die ganze Familie kann stolz auf ihn sein, dass er aufs Gymnasium geht.“

„In Deutschland haben wir alle Möglichkeiten – und ich wünsche mir, dass unsere Kinder diese Möglichkeiten nutzen. Dass sie Abitur machen und zur Universität gehen“, sagt Fawad Habibi. Er selbst hat als junger Mann ein Jahr studiert, bevor er heiratete und Geld verdienen musste. Ruqia Anwari wollte früher Ärztin werden, aber die politische Lage durchkreuzte ihre Pläne. Ihren Töchtern und Söhnen soll es besser gehen. 

Mareike Hahn / Kreiszeitung