Uneingeschränkte Leidenschaft: Im Konfirmandenunterricht für Förderschüler sorgen Bibelgeschichten für Begeisterung
SYKE / BASSUM (miu). Eben war das Meer noch eine glatte, blaue Fläche, auf der das Boot mit den 13 Männern ruhig dahinsegelte. So ruhig, dass der Anführer der Gruppe sogar einschläft. Aber von einer Sekunde auf die nächste ändert sich die Lage. Sturm zieht auf, riesige dunkle Wellen und Gischtberge stürzen auf das Schiff zu. Das viel zu klein ist, um so eine Naturgewalt im Stück zu überstehen. Die Männer geraten in Panik und schütteln ihren Chef: „Aufwachen, aufwachen! Hilf uns, wir gehen unter!“ Aber der Anführer bleibt ganz ruhig…
Joris, Leandro und Cinya starren das Bild gebannt an – Augen und Mund weit aufgerissen. Sinas Blick rast nervös über die aufgetürmten Wellen. Luke hält die Anspannung kaum aus, er muss aufspringen und die aufgestaute Energie loswerden. Zum Glück löst sich die Spannung jetzt aber ganz schnell auf: Der Chef im Boot heißt Jesus, er steht auf, hebt die Hand und sagt zum wildgewordenen Wetter: „Still!“. Und die Wellen sinken zusammen, der Wind hört auf zu wüten, das Meer ist plötzlich wieder ruhig.
Das ist eine Geschichte aus der Bibel. „Die Sturmstillung“ (nachzulesen bei Matthäus 8, 23-27; Markus 4, 37-41, Lukas 8, 22-25). Und mit ihr beschäftigt sich gerade die Konfirmandengruppe von Schul-Pastorin Johanna Schröder im Syker Gemeindehaus. Es ist eine kleine und ungewöhnlich gefühlvolle Gruppe. Die Jugendlichen sind Schüler der Erlenschule, alle zwischen 13 und 14 Jahre alt und mindestens geistig beeinträchtigt. Ihre Interessen, ihr Verhalten und die üblichen Pubertätsdinge sind wie in allen Gruppen von Teenagern. Aber die Leidenschaft, mit der die Konfirmanden in diesen Stunden mitgehen, ist nicht zu vergleichen. Bei Geschichten wie der „Sturmstillung“ oder dem „Verlorenen Sohn“ können die Emotionen schon mal hochkochen.
Bei der „Sturmstillung" schlagen die Emotionen hohe Wellen
Während Joris, Sina, Leandro und Cinya die Bibelgeschichte als Collage nachstellen – mit wüsten Krepp-Papierschlangen als Wellen und Papierbooten in Lieblingsfarben – muss Luke das Ganze erst noch mal für sich und die Gäste klarbekommen. „Ganz hohe Wellen! Und das Wasser ist schon im Boot von Jesus und seinen Freunden! Da ruft Jesus einfach: ,Stop!‘ So hat der das gemacht: STOPP!!!“ Der 14-Jährige schnellt von seinem Stuhl hoch, wirft seine Hände wie Ausrufezeichen vor sich, er sieht aus wie ein sehr energischer Verkehrspolizist, mindestens. „Und dann ist das Wasser ganz ruhig geworden, und die konnten weiterfahren…“
Johanna Schröder und Saskia Lüning lächeln sich an. Dass diese Geschichte eins der größten Wunder war, die von Jesus Christus erzählt werden, brauchen sie hier keinem mehr verständlich zu machen. Die Sozialpädagogin Saskia Lüning unterrichtet an der Erlenschule, und sie kennt ihre Schüler gut, das ist für den Konfirmandenunterricht hilfreich. Die Mädchen und Jungen haben unterschiedliche Einschränkungen – Cinya und Joris haben das Down-Syndrom, Leandro sitzt im Rollstuhl, einige haben keine klaren Diagnosen und können nicht sprechen. Manchmal hilft Gebärdensprache, meist aber persönliche Erfahrung. Saskia Lüning kennt die Hintergründe und Eigenarten ihrer Schüler. Sie weiß sofort, was welcher Gesichtszug bedeutet. „Auch diejenigen, die nicht sprechen können, haben im Konfirmandenunterricht ihre Lieblingslieder“, erklärt sie, „und das machen sie auch sehr deutlich.“
Die Jugendlichen kommen aus Bassum, Syke und kleineren Nordkreisgemeinden im Kirchenkreis. Im September vergangenen Jahres hat der Unterricht begonnen, die Gruppe trifft sich freitags für eineinhalb Stunden. „Der Ablauf ist immer gleich: singen, eine Geschichte hören, basteln, spielen, ein Abschluss-Ritual“, erzählt Johanna Schröder. „Um die Geschichten aus der Bibel verständlich zu machen, ist es immer gut, wenn man etwas mit einer Figur, einem Bild oder Spiel verdeutlicht. Etwas, das die Konfis sehen und anfassen können, so wie das Boot in der Geschichte der ,Sturmstillung‘ oder die Figur vom ,Verlorenen Sohn‘, die wir verstecken und suchen müssen.“
Und was macht den Konfirmanden selbst am meisten Spaß? Sina strahlt. Spielen und singen natürlich. „Ich finde es am besten, wenn wir mal in die Kirche gehen – da darf ich Orgel spielen“, sagt Luke. Die anderen mögen gerne die Action beim Abschiedsritual – besonders, wenn jeder im Segen oder Gebet seine eigenen Interessen einbauen kann. Beim Lied „Er hält die Welt in seiner Hand“ zum Beispiel dürfen sich alle zwei Dinge wünschen, auf die Gott in dieser Woche ganz besonders aufpassen soll. Für Cynia sind das heute ihre Tasche und das Schiff, das sie eben gerade für Jesus gemalt hat. Luke ist es wichtig, dass Gott sein besonderes Augenmerk auf Tubas und Posaunen legt. Joris wünscht sich, dass er „Papa und Joline“ auf seinen Händen trägt.
Der „große Tag“ für die Konfirmanden ist am 1. Mai, 11 Uhr, in der Syker Christuskirche. Und er wird genauso aufregend und feierlich wie bei den Gleichaltrigen aus den anderen Konfirmanden-Gruppen: Alle machen sich schick, „so richtig mit Anzug oder Rock und Sträußchen“, sagt Johanna Schröder. „Wir üben gerade noch, wie das mit dem Abendmahl geht.“
Konfirmation am 1. Mai
Einen kleinen Eindruck bekamen die Jugendlichen schon, als Joris vor einigen Wochen im Rahmen des Konfirmandenunterrichts getauft wurde: „Da haben wir ganz feierlich in der Kirche Gottesdienst gefeiert, und Joris war stolz wie Oskar“, erinnert sich die Pastorin. „An der Stimmung haben alle sofort gemerkt, dass es ein besonderer Tag war. Nicht nur die Familien der Konfirmanden und die Gemeinde, sondern auch einige Lehrer waren da. Alle haben sich hübsch gemacht. Und Joris stand im Mittelpunkt und war glücklich.“
Es ist der vierte Jahrgang von Jugendlichen mit Handicaps, der am 1. Mai konfirmiert wird. „Eigentlich spricht eine eigene Gruppe für Konfirmanden mit Behinderung ja gegen den von der Kirche propagierten Inklusionsgedanken. Darum haben die Familien verschiedene Wahlmöglichkeiten. Dieses ist nur ein Angebot von mehreren“, erklärt Johanna Schröder. „Natürlich können die Kinder auch in eine Gruppe mit nicht-behinderten Konfirmanden gehen. Aber dieses Angebot war ein spezieller Wunsch der Eltern.“
Und die sind auch schon im Anmarsch, die eineinhalb Stunden sind heute wieder mal schnell rumgegangen. Lukes Eltern müssen sich erst mal ausführlich die Collage von der „Sturmstillung“ angucken, bevor sie ihn mit nach Hause nehmen dürfen. „Da, das ist meins! Das Boot hab ich gebastelt!“, erklärt ihnen ihr Sohn. „Und das da in meinem Boot – das ist Jesus. Und da sind die ganzen Wellen und so…“
Die Mutter guckt überrascht: „Oh. Das sieht ja gefährlich aus. Was war denn da los?“ Und von der nervenaufreibenden Wirkung der Geschichte ist plötzlich nichts mehr zu spüren. „Sturm.“, antwortet Luke, 100 Prozent cooler Teenager. „Aber jetzt ist alles wieder gut.“
Dann setzt er seinen Rucksack auf und rennt los. Seine Mutter lächelt: „Na, wenn alles schon wieder gut ist – dann bis nächstes Mal!“
Miriam Unger