Interview mit Michael Schnepel, Sprecher des christlichen Fußballfanclubs „Totale Offensive Werder Bremen“
LANDKREIS (miu). Michael Schnepel gehört zu diesen Menschen, denen man alles zutraut. Ein strenges, spaßfreies Leben vielleicht nicht. Aber so ziemlich jede andere Aufgabe. Er kommt in einen Raum, hat sofort alles und jeden im Blick; er spricht, telefoniert, beantwortet Fragen, bestellt Kaffee, macht Termine, alles gleichzeitig, und ist trotzdem immer beim Thema. Sein Lebenslauf ist bunt. Der 66-Jährige ist gelernter Tischler, Sozialpädagoge und Gerontologe, war Geschäftsführer im Bereich der Altenarbeit, ist politisch aktiv und engagiert sich in der Kirche. Er ist Pastoren-Sohn, -Enkel und –Urenkel und auch selbst als Prädikant ausgebildet. Nebenbei ist er auch noch Sprecher und Macher im christlichen Fußball-Fanclub „Totale Offensive Werder Bremen“. Eine Gruppe, die auch sehr aktive Mitglieder in unserem Kirchenkreis hat - eine besonders engagierte Gruppe gehört beispielsweise zur Kirchengemeinde Seckenhausen.
Was unterscheidet christliche Fußballfans von anderen? Wie reagieren der Verein, der Fanblock, die Polizei und die Gesellschaft auf eine solche Gruppierung? Und worum geht es den Aktiven eigentlich? Antworten auf all diese – und noch viel mehr – Fragen gibt Michael Schnepel im Interview.
(Wer den Fanclub-Sprecher einmal live in Aktion erleben möchte: Er gestaltet am Freitag, 22. Januar, ab 19 Uhr im Nachbarkirchenkreis Diepholz den modernen Abendgottesdienst „NeuSehland“ in der Sulinger Kirche zum Thema „Respekt - Christsein auch im Stadion?“)
Herr Schnepel, wie sind Sie Fußballfan geworden?
Wir haben damals auf der Straße Fußball gespielt, mein großes Idol war Uwe Seeler. Ich wusste alles über ihn. Aber auch über alle anderen Spieler und Fußballclubs. Ich habe jede Woche „Kicker“ gelesen, und…
Moment – Uwe Seeler? Sie sind doch Werder-Fan…
Ich bin kein Bremer, auch kein Norddeutscher, sondern gebürtiger Hesse. Und bis ich 1988 nach Bremen kam, war ich HSV-Fan.
Ich dachte immer, man wechselt Partner, Hemden und Städte, „aber niemals den Verein“...
Ich zog damals hierher, arbeitete als Koordinator in der Altenhilfe, und wir hatten eine Kooperation mit Werder Bremen, dass die Spieler in unseren Einrichtungen Zivildienst machen konnten. Das Interesse war natürlich: Möglichst wenig arbeiten, viel Zeit fürs Training. Die Fußballer gingen unterschiedlich damit um. Einige waren nicht die Engagiertesten, aber Marco Bode zum Beispiel, der konnte trainieren, so viel der Verein wollte – er ist nach Trainingsschluss trotzdem noch ins Pflegeheim gekommen, um die alte Leute zu betreuen. Er war immer sehr interessiert und zugewandt, darum war bei uns im Heim bald alles grün-weiß.
Damals hat Werder den Europapokal der Cupsieger gewonnen. Das Spiel war in Lissabon. Marco Bode hat die Heimbewohner im Rollstuhl und seine Zivi-Kollegen eingeladen und alles für sie bezahlt – den Flug, die Hotelunterkunft… Ein älterer, schwer krebskranker Herr sagte: „Das ist wie ein Geschenk zum Schluss meines Lebens.“ Aber auch an normalen Wochenenden wurden die Bewohner aus den Heimen oft abgeholt und zum Spiel ins Weserstadion gebracht. Ich war als Begleitperson dabei und stand hinter den Rollstühlen direkt am Spielfeldrand. Da konnte man sich einfach nicht entziehen. So wurde ich Fan, Dauerkartenbesitzer und Mitglied bei Werder Bremen.
Sie gehören einem Fanclub an – einem sehr aktiven, aber keinem ganz gewöhnlichen…
Werder Bremen hat 640 unterschiedliche Fanclubs, wir hätten auch alle einfach einem beitreten können, dessen Ausrichtung wir gut finden. Aber wir wollten etwas Aktives, sozial Engagiertes machen. So haben wir 2009 die „Totale Offensive Werder Bremen“ gegründet. Wir sind Christen aus unterschiedlichen Kirchen und haben Wertvorstellungen, die wir auch in unserer Fußballwelt leben. Wir sind Superfans, wir lieben Fußball, und wir wollen auch immer gewinnen – und zwar nur wir, kein anderer Verein. Aber wir sind für Toleranz, Gewaltfreiheit und Respekt – gegenüber dem gegnerischen Verein, seinen Fans, den Spielern und auch jedem anderen.
Aber uns geht es um viel mehr als nur ums Verhalten bei einem Spiel. Wir engagieren uns vor allem außerhalb des Stadions für soziale Projekte des Vereins. Wir haben uns damals zusammengetan, weil wir finden, dass wir selbst viele Vorteile im Leben haben, und wir wollen denen, denen es nicht so gut geht, etwas davon abgeben. Darum nutzen wir beispielsweise unsere Mitgliedsbeiträge und Gelder, um Kindern, die unter der Armutsgrenze leben, zu ermöglichen, an Aktivitäten rund um den Fußball teilzunehmen. Wir unterstützen Werder Bremen bei sozialen Projekten – zum Beispiel, wenn es darum geht, in Brennpunkten Bolzplätze zu errichten. Wir laden sozial benachteiligte Kinder zu Stadionführungen und Besuchen im „Wuseum“ ein. Wir bringen sie zum Profi-Training, damit sie sich Autogramme holen können, machen Fotos von ihnen mit ihren Stars und hängen die Bilder dann beispielsweise in den Übergangswohnheimen aus, in denen die Kinder leben.
Werder Bremen hat viele soziale Projekte. In einigen geht es um benachteiligte Kinder und Jugendliche, in anderen um alte Menschen. Es gibt Inklusionsangebote für Leute mit Handicap. Stadtteil-Projekte in sozialen Brennpunkten. Aktionen und Ausstellungen zu Themen wie Toleranz, Rassismus, Homosexualität. Und noch ganz viel mehr.
Es gibt ein Ranking der Deutschen Fußball Liga, wie Erst- und Zweitligaclubs sich im sozialen Bereich engagieren. Werder Bremen ist so aktiv, dass die DFL den Verein aus diesem Ranking rausgenommen hat, weil er mit seinem Engagement die Maßstäbe durcheinanderbringen würde.
Ein wesentlicher Grundsatz der „Totalen Offensive“ im Stadion ist respektvoller Umgang. Halten Sie es wirklich durch, nicht rumzupöbeln, wenn Sie viel Geld für die Karte bezahlt haben, bei ekligem Wetter im Stadion stehen und eine Mannschaft anfeuern, die faul über den Platz schleicht? Oder einen Spieler nicht auszupfeifen, der dem Verein ewige Treue schwört, ihn dann mit Vertragsverhandlungen hinhält und dann zu den Bayern geht?
Wir sind doch keine Heiligen! Bei uns ist nicht alles heile Welt, und wir müssen uns nicht benehmen wie Engel. Natürlich regen wir uns auch mal auf und schimpfen. Wir sind ja normale Menschen mit ganz normalen Regungen. Aber man kann sich ärgern und trotzdem tolerant und respektvoll verhalten. Aber Kübel voller Hasstiraden auszuleeren und einen Gegner zu beschimpfen, nur weil er ein Gegner ist – sowas wollen wir durchbrechen. Fußball ist Fun, Bewegung, Begeisterung, aber ein Spiel. Es gibt noch mehr im Leben.
Wie hat die Vereinsführung reagiert, als sie damals ankamen und sagten: Wir wollen bei Werder Bremen einen christlichen Fanclub gründen?
Erst mal skeptisch. Wir wurden gefragt, ob wir missionieren wollen. Wollen wir aber nicht. Wir sind ja keine offiziellen Botschafter der Kirche. Wir sind einfach nur Fußballfans, die auch Christen sind. Wir halten kein Jesus-Schild hoch, wir zeigen uns durch Handlung. Wenn Menschen durch unser Verhalten aufmerksam werden und ins Fragen kommen, finden wir das natürlich gut und antworten.
Die Leute sind dann immer ganz überrascht. Einige denken, Christen wären alt, verstaubt, rückständig – und was hat die Kirche an so einem Ort wie dem Stadion zu suchen? Wir werden oft angesprochen: „Ihr seid so anders. Was macht Ihr da, und warum?“. Wenn man so ins Gespräch kommt, ist es meist ehrliches Interesse.
Nach anfänglicher Skepsis hatten wir innerhalb des Vereins bald Unterstützung vom Ex-Präsidenten Klaus-Dieter Fischer. Er hat uns von sich aus einen eigenen, festen Platz in der Ostkurve angeboten, an dem wir unser Banner anbringen durften. Das ist ein Fisch-Symbol in Vereinsfarben. Mehr als zehn Bundesliga-Vereine haben aktive „Totale Offensive“-Fanclubs, die so ein Banner haben. Unseres ist grün-weiß, das in Dortmund gelb-schwarz, das in Hamburg blau-weiß... Die Banner und Fahnen mit dem Fisch sieht man übrigens ganz oft in der Sportschau, wenn die Fanblöcke gezeigt werden.
Haben Sie als Fanclub bestimmte Privilegien bei Werder? Kommen Sie leichter an Auswärtskarten?
Wir haben unser Riesenbanner im Fanblock – Werder hat beispielsweise auch mal Überzeugungsarbeit geleistet, dass unser Banner jetzt beim Spiel gegen Schalke in der Arena in Gelsenkirchen hängen darf. Zwei Fanclubmitglieder, die unsere Fahne in der Ostkurve hochhalten, sind immer fest akkreditiert. Aber sonst haben wir keine besonderen Privilegien. Wir sind gut in die sozialen Projekte des Vereins eingebunden und haben einen engen Draht zur Abteilung CSR (Corporate Social Responsibility), die für das gesellschaftliche Engagement von Werder Bremen zuständig ist. Und Wynton Rufer, ehemaliger Spieler und weltweiter Werder-Botschafter, ist unser Schirmherr.
Empfinden andere Fangruppen in der Kurve Sie als Provokation?
Nein. Aber ich finde es gut, dass wir mit unserem Verhalten auffallen, und mit unseren Grundsätzen anders sind – vielleicht sogar eine Provokation. Jesus war doch auch eine Provokation. Der ist auf alle Menschen zugegangen. Gerade auf die, die gesellschaftlich überhaupt nicht anerkannt waren.
Haben Sie Kontakt zu den „Totale Offensive“-Fanclubs von rivalisierenden Vereinen?
Ja, einen sehr guten. Das irritiert dann immer alle – auch die Polizei. Wir machen vor dem Spiel einen dicken Eintopf und laden die „Totale Offensive“ der gegnerischen Mannschaft zum Mittagessen ein. Das machen die auch für uns, wenn wir zum HSV, BVB oder zu Hertha kommen. Wir essen, reden und gehen dann zusammen zum Stadion. Wenn Fans mit blau-weißen und grün-weißen Fahnen nebeneinander gehen, denken viele: „Die prügeln sich gleich“. Die Polizei hält oft an und sagt: „Geht mal ein bisschen auseinander!“ Dann sagen wir: „Brauchen wir nicht. Wir sind alle Christen, das geht auch trotz unterschiedlicher Vereinen nebeneinander.“
Was sind Ihre Mitglieder für Leute – Pastoren und Kirchenvorsteher?
(lacht): Die meisten kommen aus unterschiedlichen Kirchen – evangelisch, katholisch, Freikirche, alles mögliche aus dem Bremer Raum und dem Umland: Osterholz-Scharmbeck, Diepholz, Stuhr, Seckenhausen, Sulingen… Aber es geht nicht darum, ob man einer Kirche angehört, sondern nur darum, ob man sich für Fußball interessiert und von sich sagt: „Ich bin Christ“. Mittlerweile haben wir auch Mitglieder, die zu keiner Kirche gehören, aber unsere Grundsätze einfach gut finden. Die sind uns genauso willkommen. Denn das ist aus unserer Sicht ein Zeichen von Kirche: Dass man offen ist für alle, die bei einem bestimmten Projekt mitmachen wollen. Gerade heute ist es wichtiger denn je, dass wir Brücken bauen. Dass wir auf andere zugehen – ob es gegnerische Fußballfans oder Flüchtlinge sind – und versuchen, zu verbinden. Darin sehe ich meine Aufgabe als Christ, und darum geht es mir bei der „Totalen Offensive“, beim „NeuSehland“-Gottesdienst in Sulingen und auch sonst in meinem Alltag.
Was erwartet die Besucher beim „NeuSehland“-Gottesdienst, den Sie am Freitag in der Sulinger Kirche gestalten?
Ich hänge erst mal einen HSV- und einen Werder-Banner in der Kirche auf und gucke, wie die Besucher reagieren. Viele Fußballfans finden sowas ja spontan bescheuert und meinen, dass das gar nicht geht – nicht nebeneinander, und schon gar nicht in der Kirche. Darüber kann man gut ins Gespräch kommen über Unterschiede, Toleranz und die Frage: Was sind eigentlich unsere Grundsätze, unsere Werte und Überzeugungen? Wer Christ ist, der ist ja von irgendetwas überzeugt. Ich bin davon überzeugt, dass wir Brückenbauer sein sollten. Und zwar an vielen Stellen – in der Welt, in unserem Ort, in unseren Partnerschaften… Der Fußball ist sicherlich nicht die wichtigste Stelle, an der Verbindung entsteht. Aber er ist auch eine.“
Miriam Unger