„Wenn was wirklich Schlimmes passiert, dann wird der komische Religionskerl gebraucht.“

Nachricht Syke, 23. September 2015

Mario Mann ist evangelischer Schulseelsorger an den Berufsbildenden Schulen in Syke

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Mario Mann ist evangelischer Schulseelsorger an den Berufsbildenden Schulen in Syke. Foto: Miriam Unger

SYKE. Mario Mann ist Lehrer an den Berufsbildenden Schulen in Syke und seit dieser Woche offiziell evangelischer Schulseelsorger. Warum der 51-Jährige aus Bramstedt diese zusätzliche Aufgabe übernimmt, und mit welchen Themen er dabei konfrontiert ist, erzählt er im Interview.

Herr Mann, Sie sind Lehrer für Bautechnik und Politik. Wie wird denn so jemand evangelischer Schulseelsorger?
MM (lacht): „Ich habe nach der Schule Theologie studiert, sozusagen als ersten Versuch, das Studium aber nach fünf Semestern abgebrochen. Danach bin ich Zimmerer geworden und auf Wanderschaft gegangen. Und dann Berufschullehrer. Ich hatte das Theologie-Thema schon ganz nach hinten geschoben. Aber bei meinem Vorstellungsgespräch bei der Bezirksregierung in Lüneburg kam dann die Frage: Sie haben doch Theologie studiert - können Sie dann nicht auch Religion unterrichten? Und als ich hierher an die Berufsbildende Schule in Syke wechselte, kam die Frage wieder. Ich habe Ja gesagt. Dann wurde mit zwei Stunden Religion pro Woche in einer Klasse eingesetzt und bin so losgerudert.
Bis irgendwann die evangelische Kirche die Schulleitung darauf hinwies, dass man Religion nur mit Facultas unterrichten dürfte. Also habe ich eine zweijährige Ausbildung gemacht, einen sogenannten  Religionskurs. Und dabei wurde ich dann auch auf die Möglichkeit aufmerksam, Schulseelsorger zu werden.“
 
Was war das schlagkräftige Argument für Sie, dass Ihre Schule einen Seelsorger braucht?
„Ich hatte damals eine Klasse, in der Schüler mit vielen Schwierigkeiten waren, die alle aus unterschiedlichen Gründen keinen Ausbildungsplatz bekamen. Viele hatten psychische Probleme und psychosomatische Krankheiten. Die meisten waren sehr unsicher und hatten ganz viel Stress zu Hause. Da habe ich gedacht: Die brauchen irgendwie eine emotionale Stärkung. Aber ich bin an eine Grenze gekommen, wo ich gemerkt habe, dass ich nicht die richtigen Fragen stelle und nicht weiterkomme. Darum habe ich die Seelsorge-Ausbildung in Loccum gemacht.“
 
Vor welchen Fragen und Problemen stehen Sie als Schulseelsorger?
„Das ist die volle Bandbreite. Gerade im Berufsfachschulbereich gibt es ja viele Schüler in schwierigen Lebenssituationen. Ganz stark geht es um Probleme im Elterhaus. Familie ist ein großes Spektrum. Schwierigkeiten in Zweit- und Drittbeziehungen, zum Beispiel, dass es mit dem Stiefvater einfach nicht funktioniert, weil die emotionale Bindung fehlt. Es geht um geistig-seelische Verarmung, aber auch um die Situation, wo Schüler plötzlich in eine ganz andere Rolle geraten. Zum Beispiel, dass die Eltern krank werden und sie plötzlich in der Verantwortung sind. Oder: Wir haben 17-jährige, die selber Kinder haben und mit dieser Belastung nicht klarkommen. Und kulturbedingte Schwierigkeiten kommen auch manchmal dazu, die für uns hier vielleicht erst mal ungewöhnlich sind. Zum Beispiel, dass Jugendliche aus Ländern stammen, in deren Kultur Geister eine Rolle spielen. In einigen afrikanischen Kulturen bleiben die Ahnen präsent, sie leben in einer Art Schattenwelt, aus der sie immer mal wieder auftauchen können. Manche werden verehrt, manche aber auch als Bedrohung und Bedrängung empfunden. So können sich sogar Familienfehden über Generationen weiterspinnen. Aber solche Fälle sind natürlich eher selten.
Wenn Kollegen zu mir kommen, geht es meist um Tod. Manchmal um Schwierigkeiten bei der Arbeit.“
 
Die Schüler an der BBS sind zwischen 15 und 21 Jahre alt. Kommen die in dem Alter einfach so mit ihren Problemen zu einem Lehrer? Selbst wenn er eine Seelsorgeausbildung hat?
„Nein. Die Schüler gehen vielleicht mal zu ihrem Klassenlehrer, den sie kennen – WENN sie Vertrauen zu ihm haben. Problemfälle gibt es genug, aber von sich aus sprechen einen die wenigsten an, wenn man nicht ihr Klassenlehrer ist.  Im Augenblick ist es so, dass alle langsam drauf aufmerksam werden, dass es einen Schulseelsorger gibt. Aber ich dränge mich nicht auf. Ich bin hier, ich gebe dieses Angebot, aber man kann keinen zwingen. Dieser komische Religionskerl wird häufig belächelt - aber wenn dann mal etwas Schlimmes passiert wie Tod im nahen Umfeld, dann wird er gebraucht.“
 
Ist den Leuten, die zu Ihnen kommen, klar, dass Sie einen christlichen Hintergrund haben, oder sehen sie Sie als normalen Seelsorger?
„Das ist den meisten nicht klar. Ich habe kein Kreuz im Beratungszimmer hängen, ich möchte das Angebot möglichst niedrigschwellig halten. Für die meisten Schüler spielt es aber auch keine Rolle. Entweder, sie haben ein ganz geringes Grundglaubensgefühl, dass es da irgendetwas gibt. Viele haben auch nicht mal mehr das. Mädchen haben noch ein bisschen mehr spirituelles Interesse, die Jungs eher nicht.“
 
Was ist das Evangelische an Ihrem Angebot?
„Erst mal die Ausbildung. Und dann die Tatsache, dass ich einen evangelischen Hintergrund habe. Aber es geht selten um Glaubensfragen. Bei uns an der Schule sind viele Kulturen und Religionen. Wir haben Muslime, Sunniten, Buddhisten, sogar mal einen Hindu, evangelische und katholische Christen der unterschiedlichsten Formen. Es ist spannend, was die alle mitbringen. Aber die Jugendlichen, die christlich geprägt sind, wissen deutlich weniger über ihre Religion als zum Beispiel die muslimischen Schüler. Ich freue mich immer, wenn ich muslimische Schüler da habe, weil sie überhaupt eine religiöse Bindung haben. Aber darum geht es auch nicht. Ich bin als Seelsorger für alle da. Ich sehe mich als erste Anlaufstation, die entweder hilft, für das Problem selbst eine Lösung zu finden. Oder die guckt, wo geholfen werden kann, wenn es ein größeres Problem ist. Ich bin eine Art kleines Bollwerk, das zumindest noch mal versucht, ein paar Inhalte und Gedanken rüberzubringen, die man als christlich bezeichnen kann.“
 
Welche Hilfe können Sie den Ratsuchenden im ersten Gespräch anbieten außer zuhören?
„Ich habe in der Seelsorger-Ausbildung verschiedene Gesprächstechniken gelernt, mit denen man versuchen kann, noch mal anders Anstöße zu geben zu einer positiven Entwicklung. Ich habe da so eine Art Erste-Hilfe-Kit. Manchmal hilft es, eine Konstellation auf einem Stellbrett darzustellen und von oben draufzugucken. Oder eine gezielte Fragestellung, bei der es nicht darum geht: ,Wo kommst Du her, was ist Dein Problem?‘, sondern: ,Ging‘s Dir schon mal besser? Was war in der Situation damals anders als jetzt?‘.“
 
Wie honoriert die Schule diesen Einsatz? Werden Sie für Ihre Aufgabe freigestellt?
„Wenn mir die Leute jetzt die Bude einrennen würden, müsste ich vielleicht darüber nachdenken, eine Überlastung anzugeben. Aber das war bisher nicht der Fall. Wenn etwas passiert, das plötzlich ganz viele Beratungsstunden erforderlich machen würde, bin ich mir sicher, dass meine Schulleitung offen wäre. Das hat sie, als die Stelle installiert wurde, schon so signalisiert.“
 
Miriam Unger