Auftaktveranstaltung „netcrash": Neues Angebot zur Mediensuchtprävention im Landkreis Diepholz
LANDKREIS. „Können Kinder und Jugendliche die Flut der elektronischen Medien heute überhaupt noch bewältigen?“ Mit dieser Frage konfrontiert Mediensucht-Experte Eberhard Freitag am Donnerstag die Besucher der Auftaktveranstaltung von „netcrash“, dem neuen Projekt für Mediensuchtprävention im Landkreis Diepholz. Und der Referent trifft mit seinem knapp einstündigen Vortrag in der Realschule Syke sofort auf eine interessierte und meinungsfreudige Zuhörerschaft - denn die meisten Besucher sind Eltern und/oder Lehrer.
Initiiert haben den Informations- und Diskussionsabend drei Partner, die bereits seit langer Zeit im Landkreis Diepholz als Spezialisten für Suchtprävention bekannt sind: Das Diakonische Werk, der Caritasverband und das „release“-Netzwerk psychosozialer Hilfen. Finanziert vom Landkreis, haben die drei Träger gemeinsam den Auftrag bekommen, Präventionsangebote zu entwickeln für Betroffene mit exzessivem Medienkonsum in der Region. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen vor allem Projekte in und mit den Schulen. Diakonie, Caritas und „release“ bieten beispielsweise Unterrichtseinheiten für die Jahrgänge fünf und sechs sowie sieben und acht an, in denen es darum geht, die Jugendlichen zu sensibilisieren und die Suchtgefahr von digitalen Medien überhaupt erst zu erkennen.
„Wir erhoffen uns von diesem Projekt, dass es uns neue Erkenntnisse über die Medienbenutzung und die Suchtgefahr bei jungen Konsumenten liefert“, erklärt Landrat Cord Bockhop.
LANDKREIS FÖRDERT MEDIENSUCHTPRÄVENTION
Die Präventionsarbeit im Bereich der Mediensucht steht zwar noch am Anfang. Dass der Bedarf für Beratung und Hilfsangebote im Landkreis in den vergangenen Monaten aber stark zugenommen habe, berichten alle drei Fachstellen im Gespräch mit Miriam Unger, Pressereferentin für Diakonie und evangelische Kirche in der Region, die den Abend moderiert.
Die Nachfrage sei im Vergleich von 2009 zu 2014 um 21 Prozent gestiegen, verdeutlicht Erik Walsemann von der Suchtberatungsstelle des Diakonischen Werks in Diepholz. „Die Dunkelziffer ist natürlich hoch“, stimmt sein Kollege Johannes Kaluza vom Caritasverband in Twistringen zu, „aber es ist deutlich, wie wichtig das Thema Prävention in Schulen und für Eltern heute ist. Und dass es auch hier bei uns im Landkreis noch größer wird.“
Laut Statistik gelten in Deutschland bereits 560.000 Menschen als medienabhängig. Insbesondere betroffen ist die Altersgruppe der 14- bis 24-jährigen. „Viele Kinder sind heute kaum noch vom Computer oder Smartphone wegzubekommen“, weiß Michael Elsner von „release“. „Mit dem Smartphone haben sie ihren Internetzugang ständig in der Hosentasche und surfen auch nachts noch. Schule und Interessen rücken immer mehr in den Hintergrund. Ohne Unterstützung von außen laufen viele Gefahr, sich von ihrer Umgebung zu isolieren und in Scheinwelten einzutauchen.“
Allen drei Fachleuten ist es allerdings wichtig, die digitalen Medien, das Internet, die Sozialen Netzwerke und auch Online-Spiele nicht grundsätzlich zu verteufeln. Eberhard Freitag, der Gastreferent des Abends und Leiter der Mediensucht-Fachstelle „return“ in Hannover, erkennt teilweise sogar einen positiven Zugewinn, den Jugendliche durch häufiges Computerspielen haben. Eine deutliche Verbesserung der Reaktionsfähigkeit etwa.
560.000 DEUTSCHE SIND MEDIENABHÄNGIG
Freitag erklärt das Problem der Mediensucht mithilfe eines Bildes. Ein Aquarium ist darauf zu sehen, in dem sich Stichworte wie „Hobbys“, „Interessen“, „Schule“, „Aktivitäten“ und „Kontakt zu anderen“ wie bunte Fische nebeneinander tummeln. Bis ein neuer Bewohner ins Aquarium gesetzt wird, der die Unterwasserwelt so richtig aufmischt. Ein großer, spektakulärer Raubfisch, schön anzusehen und mal was ganz anderes als die netten, bunten Fische, die man sonst so kennt. Sofort zieht er alles Interesse auf sich. Und schnappt sich nebenbei die bunten Fische. Einen nach dem anderen, bis von allen nur noch traurige Gerippe herumliegen.
„Die neuen Medien sind im Aquarium der Interessen und Verpflichtungen unserer Kinder wie dieser Raubfisch“, sagt Eberhard Freitag. „Das heißt allerdings nicht, dass unsere Kinder diesen Fisch gar nicht haben und mit ihm Zeit verbringen sollen. Aber er gehört nicht ins selbe Aquarium mit den anderen Fischen. Er braucht ein eigenes.“ Einen Raum, der von den anderen klar abgetrennt ist und sie schützt. Und der auch natürliche Grenzen hat, damit das Viech sich nicht zu sehr ausbreitet.
„Wir müssen als Erwachsene Grenzen setzen. Eine zeitliche Grenze für Computerspiele und eine feste Zeit für Aktivitäten statt für Konsum. Und wir müssen Kindern und Jugendlichen das Rüstzeug mitgeben, um Maß zu halten. Gerade, wenn das Angebot so unendlich erscheint“, betont Freitag. „Es erfordert einen gewissen Reifegrad, um verantwortlich mit Medien umzugehen. Ganz junge Kinder sind dazu einfach noch nicht in der Lage. Holz hacken oder eine Motorsäge zu bedienen macht auch Spaß - trotzdem geben wir keinem Fünfjährigen eine Axt oder eine Motorsäge in die Hand.“
SPIELE ENTWICKELN EINE ENORME SOGWIRKUNG
Viele Computerspiele bestechen heute durch eine aufwändige, künstlerische Grafik und vielschichtige, hochspannende Inhalte. Sie sorgen für Unterhaltung, Ästhetik, Spaß und schnelle Erfolgserlebnisse. „Das kann schon eine enorme Sogwirkung entwickeln“, weiß Diakonie-Suchtberater Erik Walsemann. „Aber den meisten ist nicht klar, dass diese Spiele durch ein cleveres System aus Belohnungen, Spaß am Wettbewerb und dem Wunsch, weiterkommen zu wollen, eben auch suchtfördernde Komponenten beinhalten“.
Verändertes Freizeitverhalten und eingeschränkte Fähigkeiten in der Schule seien erste Anzeichen. „Am häufigsten suchen alarmierte Eltern Rat in unseren Beratungsstellen“, erzählt Johannes Kaluza, und Michael Elsner ergänzt: „Die Betroffenen selber sehen zunächst keinen Grund zu kommen, werden aber von den Eltern geschickt.“
ELTERN KOMMEN ZUERST IN DIE BERATUNG
Die Kollegen im Diakonischen Werk Diepholz suchen in solchen Fällen erst einmal den Kontakt zu den Jugendlichen selbst, gucken sich mit ihnen ihr Lieblings-Computerspiel an und versuchen, darüber ins Gespräch zu kommen. „Oft ahnen die Jugendlichen, dass ihre Mediennutzung aus dem Ruder gelaufen ist“, erzählt Erik Walsemann. „Keiner ist glücklich darüber, wenn die Schulleistung leidet, Freundeskreise sich verändern und Hobbys aufgegeben werden. Die meisten Teenager und jungen Erwachsenen haben immer noch ganz bodenständige Ziele: Ausbildung, Arbeit, Führerschein, Beziehung. Und uns ist es wichtig, dass sie selbst erkennen, dass der Medienkonsum dem entgegensteht.“
Die Beratungsstellen haben sich die Arbeitsgebiete aufgeteilt: Im nördlichen Landkreis Diepholz ist „release“ zuständig für die Mediensuchtsucht-Präventionsarbeit. Im Südkreis übernimmt die Fachstelle für Sucht und Suchtprävention des Diakonischen Werks die Arbeit. Und im Bereich Twistringen der Caritasverband.
Ilona Drescher / Miriam Unger